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Das Projekt „Das Anthropozän lernen und lehren“

Was ist das Anthropozän?

Der Begriff „Anthropozän“ zur Bezeichnung eines neuen Erdzeitalters, das gekennzeichnet ist durch den massiven, folgenreichen Eingriff des Menschen in das System Erde, wurde im Jahr 2000 von dem Chemiker und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen und dem Biologen Eugene Stoermer vorgeschlagen. Es wird auch (vereinfacht) 'das Zeitalter des Menschen' genannt.

Die Internationale Kommission für Stratigraphie (www.stratigraphy.or) hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe (AWG) eingerichtet, die eine mögliche zeitliche Fixierung diskutierte und 2016 ihre Ergebnisse vorstellte (Zalasiewicz et al. 2017): 

„Angefangen, so die Wissenschaftler, habe das neue Erdzeitalter in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, mit der ‚Great Acceleration‘, dem Plutonium-Fallout der Atomtests, dem scharfen Anstieg von fossilem Brennstoffverbrauch, dem dadurch verursachten CO2-Ausstoß und mit vielen anderen Stoffen (Plastik, Aluminium), die eine distinkte und dauerhafte geologische Markierung in der Oberfläche der Erde bilden werden.“ (Horn 2017)

Der Mensch ist zu einem „geologischen Faktor“ (Trischler 2016, 269) geworden, so die Anthropozän-These, die daher auch ein kulturelles Konzept darstellt und eine kritische Selbstreflexion des Menschen in Konfrontation mit dem Vorwurf des Anthropozentrismus fordert. 

Das Anthropozän kann als „Brückenkonzept und Querschnittsaufgabe“ (Dürbeck 2015, 107) sowohl für die Natur- wie für die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften betrachtet werden, „als Reflexionsbegriff, um die durch die neue geowissenschaftliche Perspektive aufgeworfenen komplexen ethischen, sozialen und kulturellen Fragen anzugehen, nach einer posthumanen Selbstbestimmung des Menschen zu suchen und die ästhetischen und kreativen Möglichkeiten im Umgang mit dem Anthropozän auszuloten“ (ebd.). 

Wissenschaftler*innen verschiedenster Fachgebiete sind gefordert, „ihre etablierten Erzählungen, Geschichten und Narrative kritisch auf den Prüfstand zu stellen und ihre theoretischen, methodischen und konzeptionellen Fundamente zu überprüfen“ (Trischler 2016, 273f.). Eine solch tiefgreifende Revision der Wissenschaftsgeschichte lässt es notwendig erscheinen, auch in der Schule diskutiert und für die Wissenschaftskommunikation genutzt zu werden.

Das Anthropozän als Denkrahmen für Lernen und Lehren

Die Wechselwirkung von Mensch und Natur hat durch die erkennbaren Folgen von Klimawandel und Artensterben eine Aktualität gewonnen, die für hoch-/schulische Bildung von zentraler Bedeutung ist.

Das Anthropozän-Konzept, die Bezeichnung für den jetzigen Abschnitt der Erdgeschichte, in dem die massiven Eingriffe des Menschen in die Umwelt sichtbar werden, fordert dazu auf, über die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer zukunftsorientierten Neugestaltung der Mensch-Natur-Beziehung nachzudenken und sie für aktive Lernprozesse zu nutzen.

Das Anthropozän bietet daher einen wichtigen Denkrahmen für transformative Bildungsprozesse, die zu Zukunftsverantwortlichkeit und Gestaltungskompetenz befähigen.

Im Lernraum Schule bietet die fächerverbindende Auseinandersetzung mit der Mensch-Natur-Beziehung im Kontext der Dimensionen Zeit und Raum die Möglichkeit, das Anthropozän als Reflexionsbegriff und als Lernmedium im Sinne transformativer Bildung zu nutzen.

Eine innovative Wissenskommunikation mit Nutzung digitaler Medien will aktive Beteiligung an der Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft ermöglichen.

Einladung zur kokreativen Mitwirkung

Das interdisziplinäre Projekt „Das Anthropozän lernen und lehren“

  • lädt Studierende ein: innovative Lernszenarien, die ein Verständnis der Wechselwirkung von Mensch und Natur, Kultur und Technik, Wirtschaft und Gemeinschaft fördern und einen Perspektivenwechsel befördern, in forschendem Lernen selbst zu entwickeln und zu beforschen.

  • lädt Pädagoginnen und Pädagogen ein: in allen Unterrichtsgegenständen transformatives Lernen in Best-Practice-Beispielen theoriegeleitet zu konzipieren und in der Praxis empirisch zu überprüfen.

  • lädt Gestalter/innen digitaler Medien ein: naturwissenschaftliche Fakten mit kulturwissenschaftlicher Narration zu verbinden und medienpädagogisch umzusetzen.

Das interdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Das Anthropozän lernen und lehren“ hat sich das Ziel gesteckt, das Anthropozän als Denkrahmen für Bildungsprozesse in die Schule zu bringen. Der geologische Fachbegriff für unser aktuelles Erdzeitalter dient gleichzeitig als kulturelles Konzept für Beschreibung und Gestaltung der Mensch-Natur-Beziehung. In dieser Mehrfachfunktion kann das Anthropozän als Reflexionsbegriff für eine Weiterentwicklung der Bildung für nachhaltige Entwicklung genutzt werden.

Um im Schulunterricht eine fächerverbindende Auseinandersetzung im Kontext der Dimensionen Zeit und Raum zu ermöglichen, konzentriert sich das Projekt – mit den Projektpartnern Pädagogische Hochschule Niederösterreich, Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik, WasserCluster Lunz, Stiftsbibliothek Klosterneuburg und FH St. Pölten/Medientechnik – exemplarisch auf das Thema Wasser im Raum Niederösterreich. Weitere Projektpartner sind eingeladen, sich aus Sicht der Bezugswissenschaften einzubringen.

"Das Anthropozän lernen und lehren": 
FOLDER zur Kurzinfo und zum Download

Beispiel: Thema Wasser in Niederösterreich

Die Fokussierung auf Wasser macht es möglich, die Lebenswirklichkeit und Alltagspraktiken der Lernenden in Primar- und Sekundarstufe anzusprechen und offene Lernprozesse an Primärerfahrungsorten zu inszenieren. Im Sinne eines vernetzten Lernens von den lokalen Gegebenheiten zu weltweiten Problemen z.B. mit Oberflächenwasser und Erosion bietet der Ansatz des Globalen Lernens die Gelegenheit, neben der lokalen auch die globale Dimension zu veranschaulichen. Die Zusammenarbeit mit dem WasserCluster Lunz gewährt Schülerinnen und Schülern praktische Einblicke in wissenschaftliches Arbeiten im Freiland und im Labor über sogenannte Citizen Science Projekte. Über Citizen Science wird naturwissenschaftliches Verständnis im Sinne Forschenden Lernens vermittelt, in der Regel an für die Beteiligten relevanten Orten mit persönlichem Bezug.

Die menschliche Aneignung und Nutzung der Ressource Wasser im Anthropozän lässt sich auch an kulturhistorischen Objekten erfahrbar machen, etwa naturhistorischen Werken aus vergangenen Jahrhunderten in der Stiftsbibliothek Klosterneuburg. An der Auseinandersetzung mit alten Büchern können Schüler/innen neben der kulturellen Praktik des Buchdrucks auch die Bedeutung der Digitalisierung von Handschriften und frühen Drucken inklusive Objektbeschreibung kennenlernen und diese selbst vor Ort in der Bibliothek durchführen. So lassen sich Historisches Lernen, Sprachliche und Kulturelle Bildung im Sinne einer Transkulturellen Pädagogik (Becker-Mrotzek & Roth 2017, 32f.) vielfältig miteinander verbinden. Zahlreiche weitere Beispiele in den Kontexten von Geschichte, Literatur, Kunst, Musik sind zu erschließen und in Lernszenarien mit den Bedingungen in der Gegenwart zu verknüpfen, um Gestaltungskompetenz für die Zukunft zu ermöglichen.

Dabei gilt es, Narrationen und Visualisierungen medienpädagogisch zu nutzen, um mögliche Entwicklungspfade anschaulich zu machen (Leinfelder 2013, 2016, 2017, 2018) und digitale Grundbildung zur Anwendung zu bringen. Das Projekt entwickelt auf diesem Wege innovative Konzepte zur Wissenschaftsvermittlung.

In räumlicher und zeitlicher Hinsicht macht es die Auseinandersetzung mit der Natur- und der Kulturgeschichte des Wassers anhand von regionalen und lokalen Objekten und Situationen in Niederösterreich möglich, die globale Perspektive des Anthropozäns und seine Herausforderungen erlebbar und verstehbar werden zu lassen.

Das Lernen an Primärerfahrungsorten ist ein wesentliches Moment, um den Menschen als Akteur zu begreifen: im Schaffen von kulturellen Werten ebenso wie im Eingreifen in die und Verändern der natürlichen Stoffkreisläufe (z.B. Wasserkreislauf) und Energiekaskaden (z.B. Aneignung von Nettoprimärproduktion in Form von pflanzlicher und tierischer Biomasse). Das Wissen, das dabei generiert wird, befördert neben kommunikativen, sozialen und kulturellen Kompetenzen vor allem die Handlungskompetenz, wie sie für die proaktive Gestaltung einer nachhaltigen Gesellschaft im Anthropozän lebensnotwendig ist. Dies geschieht auf dem Weg einer Sensibilisierung für sprachliche und kulturelle Diversität ebenso wie für die Verantwortung des Menschen für die Zukunft des Systems Erde im Anthropozän.

Literatur (zur Einführung)

Dürbeck, Gabriele (2015). Das Anthropozän in geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. In Gabriele Dürbeck & Urte Stobbe (Hrsg.), Ecocriticism. Eine Einführung (S. 107–119). Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 

Ellis, Erle C. (2018). Anthropocene. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press.

Horn, Eva (2017). Jenseits der Kindeskinder. Nachhaltigkeit im Anthropozän. Merkur (23. Februar 2017), http://www.merkur-zeitschrift.de/2017/02/23/jenseits-der-kindeskinder-nachhaltigkeit-im-anthropozaen/  (abgerufen 06.05.2018)

Horn, Eva & Bergthaller, Hannes (2019). Anthropozän zur Einführung. Hamburg: Junius.

Leinfelder, Reinhold (2013). Verantwortung für das Anthropozän übernehmen. Ein Auftrag für neuartige Bildungskonzepte. In Markus Vogt, Jochen Ostheimer & Frank Uekötter (Hrsg.), Wo steht die Umweltethik? Argumentationsmuster im Wandel (S. 283–311). Marburg: Metropolis. (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung 5)

Leinfelder, Reinhold; Hamann, Alexandra; Kirstein, Jens & Schleunitz, Marc (2016). Die Anthropozän-Küche. Matooke, Bienenstich und eine Prise Phosphor. In zehn Speisen um die Welt. Berlin: Springer.

Leinfelder, Reinhold; Hamann, Alexandra; Kirstein, Jens & Schleunitz, Marc (2017). Science meets Comics. Proceedings of the Symposium on Communicating and Designing the Future of Food in the Anthropocene. Berlin: Christian A. Bachmann Verlag. 

Leinfelder, Reinhold (2018). Das Anthropozän. Ein integratives Wissenschafts- und Bildungskonzept. Gemeinsam lernen. Zeitschrift für Schule, Pädagogik und Gesellschaft 3/2018 (Themenheft Global Goals), 8–14.

Leinfelder, Reinhold (2018a). Nachhaltigkeitsbildung im Anthropozän. Herausforderungen und Anregungen. In LernortLabor – Bundesverband der Schülerlabore e.V. (Hrsg.), MINT-Nachhaltigkeitsbildung in Schülerlaboren – Lernen für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft (S. 130–141). Berlin. 

Niebert, Kai & Gropengiesser, Hararld (2013). Understanding and communicating climate change in metaphors. Environmental Education Research, 19, 3, 282–302.

Niebert, Kai (2016). Willkommen im Anthropozän. Biologie in unserer Zeit 46, 2, 75.

Niebert, Kai (2016). Nachhaltig lernen im Anthropozän. In M.K.W. Schweer (Hrsg.), Bildung für nachhaltige Entwicklung in pädagogischen Handlungsfeldern. Grundlagen, Verankerung und Methodik in ausgewählten Lehr-Lern-Kontexten (S. 77–94). Frankfurt/M.: Peter Lang.

Scheuch, Martin & Sippl, Carmen (2019). Wasser lernen im Anthropozän. Fächerverbindender Unterricht in der Primarstufe. R&E-Source, S14. Hier oder hier abrufbar

Singer-Brodowski, Mandy (2016). Transformatives Lernen als neue Theorie-Perspektive in der BNE. In Umweltdachverband (Hrsg.), Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung – Im Wandel (S. 130–139). Wien: Forum Umweltbildung im Umweltdachverband.

Singer-Brodowski, Mandy (2016). Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendigkeit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. Zeitschrift für Internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 39, 1, 13–17.

Sippl, Carmen & Scheuch, Martin (2019). Das Anthropozän als Denkrahmen für Bildungsprozesse. Eine Projektskizze. Zeitschrift für agrar- und umweltpädagogische Forschung 1, 107–119. Hier abrufbar

Syvitski J. et al. (2020). Extraordinary human energy consumption and resultant geological impacts beginning around 1950 CE initiated the proposed Anthropocene Epoch. Communications Earth and Environment 1:32, Open Access.

Trischler, Helmuth (2016). Zwischen Geologie und Kultur: Die Debatte um das Anthropozän. In: Anja Bayer & Daniela Seel (Hrsg.). All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän. Anthologie (S. 269–286). Berlin: kookbooks, München: Deutsches Museum.

Zalasiewicz, Jan, Waters, Colin N., Summerhayes, Colin P., Wolfe, Alexander P., et al. (2017). The Working Group on the Anthropocene: Summary of evidence and interim recommendations. Anthropocene 19, 55–60.

Zalasiewicz J. et al. 2021, The Anthropocene: Comparing Its Meaning in Geology (Chronostratigraphy) with Conceptual Approaches Arising in Other Disciplines. Earth's Future, 9, e2020EF001896, open access: https://doi.org/10.1029/2020EF001896

Zowada, Christian; Niebert, Kai & Eilks, Ingo (2019). Wenn nicht jetzt, wann dann? Nachhaltigkeit im naturwissenschaftlichen Unterricht. Unterricht Chemie 172, 2–9.

HIER finden Sie im Projekt entstandene Publikationen: https://www.ph-noe.ac.at/de/forschung/forschung-und-entwicklung/anthropozaen/literatur-links