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Acht Kerngedanken lernseitigen Unterrichts

"Wenn man die Brille der Lehrperson so ändern kann, dass sie das Lernen mit den Augen ihrer Lernenden sieht, wäre dies schon einmal ein exzellenter Anfang." 

                                                                                                                                                         Hattie, 2013, 296. Lernen sichtbar machen. 

Lernseits zu denken und responsiv zu unterrichten heißt, das Lehren vom Lernen her zu gestalten.
Der lernseitige Ansatz zeigt praxisnah auf, wie ein personalisiertes Verständnis von Lehren und Lernen auf den Unterricht wirkt (Agostini, Schratz & Risse, 2018).

Sinn, Einstellung, Haltung

Lernseitigkeit setzt seitens der Lehrenden eine bestimmte Wahrnehmungsweise voraus, die dazu führt, dass die Schüler*innen die Entstehung von Sinn – beispielsweise im Übergang von einem „lebensweltlichen Auskennen“ zu einem fachlichen Wissen bzw. „wissenschaftlichen Erkennen“ im Unterricht – nachvollziehen können (Meyer-Drawe, 2010, S. 7; Agostini et al., 2018).
Durch eine Gegenstandsorientierung mit sinnvollen, verständnisintensiven Lernprozesse und einer Subjektorientierung mit persönlichkeitsbildenden Lernprozessen (Gebhard, 2015), soll sich die Welt sinnspendend erschließen (Blumenberg, 1999). Dabei helfen die zwei zentralen Kernfragen: Was sollen die Schüler*innen wissen / verstehen / können? Welche wirkmächtigen Erfahrungen können Schüler*innen dazu machen?
Grundlage ist „eine Lernatmosphäre im Sinne einer wechselseitigen Anerkennung Lernender und Lehrender als Partner in einem Dialog“ (Gebhard, 2015, S. 8). Dieses gemeinsame Arbeiten auf Augenhöhe, um Wissen gemeinsam zu schaffen und die Praxis auf der Grundlage von Erfahrungsdaten gemeinsam zu entwickeln, erzwingt bei Lehrenden und Lernenden Veränderungen im Habitus (Schratz & Westfall-Greiter, 2014).

Professionsethik und Professionsbewusstsein
Lernseitigkeit erfordert von Lehrer*innen professionelles Wissen und Reflexion um die eigenen Grenzen und Möglichkeiten (Agostini et al., 2018).
Der Grad der Professionalität korreliert positiv mit den Lernergebnissen der Schüler*innen (OECD, 2016). Dazu wurden drei Domänen von Professionalität bestimmt: Wissensbasis – das spezialisierte Wissen, das die Profession ausmacht. Autonomie – der Handlungsraum für Entscheidungen, Grad der Selbstbestimmung sowohl auf Unterrichts- als auch auf Schulebene. Vernetzung – Möglichkeiten für Informationsaustausch und Weiterentwicklung.
Schratz, Paseka und Schrittesser (2011) entwickelten fünf Arbeitsgebiete der Profession von Lehrpersonen (Personal Mastery, Professionsbewußtsein, Reflexions- und Diskursfähigkeit, Differenzfähigkeit und Kollegialität), welche umfassenden Kompetenzfeldern entsprechen. Diese Domänen sind als Bausteine einer professionellen Praxis zu verstehen, mit und an denen Lehrpersonen aktiv ein Berufsleben lang arbeiten.

Systemisches Wissen und Handeln
Der systemische Ansatz betrachtet die Lernenden in ihrem Lebenskontext und versteht die Welt in ihren Wechselwirkungen. Menschen verändern sich ständig und entstehen in ihren und durch ihre Systeme permanent neu. Veränderungen machen sich häufig durch veränderte Verhaltensweisen bemerkbar. Niemand verhält sich in allen ihn umgebenden Systemen gleich. Schüler*innen verhalten sich in ihren Familien anders als im Freundeskreis oder in der Schulklasse. Auch Lehrpersonen verhalten sich in verschiedenen Kontexten völlig unterschiedlich.
Die Haltung einer systemisch denkenden und handelnden Lehrperson ist im Idealfall nicht bewertend. Da sie davon ausgehen kann, dass bestimmtes Verhalten die unterschiedlichsten Hintergründe haben kann, wird sie die Reaktion nicht auf sich persönlich beziehen, sondern versuchen, den Unterricht in eine sinnvolle Richtung zu führen.
Die Bedeutung systemischen Handelns macht sich im Erkennen eines Unterschiedes fest: Wie war es vorher, wie ist es jetzt. In diesem Sinne gilt: „Ändert man sich selbst in seinem Denken und Handeln, so ändert sich auch die Beziehung zum anderen“ (Franke-Gricksch, 2004, S. 86).

Persönlichkeitsbezug
Jeder Gegenstand oder jeder Begriff hat je nach Vorerfahrung eine unterschiedliche Bedeutung für die jeweils wahrnehmende Person. So können diese „Dinge“ ansprechend sein, unterschiedliche Wirkkräfte ausüben oder zu mannigfachen Handlungen anstiften. Lernseitigkeit nimmt die Perspektive der Lernenden und den Aufforderungscharakter der Dinge ernst.
Da Lernen nicht gesteuert, d.h. unplanbar, ist, ist in einer lernseitigen Sichtweise ein personalisiertes Vorgehen erforderlich. Personalisierung ist sich der Unterschiedlichkeit des Vorwissens und der Verschiedenheit der Wahrnehmung der Schüler*innen bewusst (Agostini et al., 2018).
Personalisierung als die Leitidee für ein pädagogisches Konzept einer Schule setzt einen Perspektivenwechsel voraus (Weigand, 2011, S. 36). Schüler*innen als Einzelperson sind der Ausgangs- und Zielpunkt schulischen Handelns und es geht um die Ermöglichung der Persönlichkeitsentfaltung.
Dieser Zugang „setzt folglich einen entsprechenden Freiraum für den persönlichen Anschluss zu den Lerninhalten und zur Erschließung der Bedeutung von Lernerfahrungen für das eigene Leben voraus“ (Schratz & Westfall-Greiter, 2010, S. 26). Dabei übernehmen die Lernenden Urheberschaft und Lernen erfolgt als gestalterischer Prozess der Eigenbewegung und Selbstbestimmung (Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter, 2011, S. 26).

Kompetenzorientierung
Kompetenzen ermöglichen es den Schüler*innen, in variablen Situationen zu handeln und ihr Wissen und Können zielgerichtet, verantwortungsvoll und reflektiert einzusetzen. Sie schaffen die Basis für den Erwerb und die Anwendung spezifischer Fähigkeiten und Fertigkeiten und verkörpern damit ein weitgehend stabiles Werkzeug, das zur Bewältigung wechselnder Herausforderungen befähigen soll.
Somit ist Kompetenz das Zusammenspiel von Wissen, Können und Disposition, welches uns in neuen Situationen zur Verfügung steht. Je höher unsere Kompetenz, desto mehr Handlungsoptionen haben wir. 
Kompetenzorientierung im Unterricht ist unter Beachtung der Definition von Weinert (2001) eine Verbindung und Verknüpfung des kognitiven Wissens und Könnens mit motivationalen, volitionalen und sozialen Aspekten und Fähigkeiten wie auch mit dem verantwortungsvollen und reflexiven Beurteilen und Nutzen von Kompetenzen.
Der Erfolg der Kompetenzorientierung und der Bildungsstandards steht und fällt mit den Lehrpersonen, die mit ihrem unterrichtlichen Handeln die Lernentwicklung von Schüler*innen begleiten und unterstützen (Posch, Rauch & Seidl, 2012).

Zugang zu Sache, Zugang zum Kind
Lernseitigkeit unter diesem Gesichtspunkt bedeutet, dass Lehrkräfte versuchen den Bezug zu ihren Schüler*innen herzustellen und bei ihnen ein spezifisches Interesse zu entfachen. Da Interesse immer an die Person gebunden ist, kommt es je nach Schüler*in anders zum Vorschein und in den Blick. Wichtig für Lehrende ist, dass Lernangebote bzw. Unterrichtsinhalte bei Schüler*innen unterschiedliche Reaktionen auslösen können:
Ablehnung - Das Lernangebot ist fremd und lässt sich weder kognitiv erfassen noch emotional würdigen. Deshalb wird es abgelehnt.
Begegnung - Das Lernangebot spricht vorhandene Kenntnisse an. Vor dem Hintergrund positiver Vorerfahrungen löst es Interesse aus, macht neugierig und bahnt vertiefendes Lernen an.
Konflikt - Das Lernangebot spricht vorhandene Kenntnisse an. Vor dem Hintergrund negativer Vorerfahrungen löst es Abwehr und Widerstand bis hin zur Verweigerung aus.
Desinteresse - Das Lernangebot trifft auf zu viele Vorkenntnisse. Deshalb werden darin trotzdem enthaltene Lernchancen nicht erkannt und ausgeschlagen (Scheunpflug, 2000, auf Basis der Grundgedanken von Klafkis „Didaktischer Analyse“). 
Deshalb erscheint es sinnvoll, mehrere Zugänge zu einem Thema vorzusehen. Daraus ergeben sich für Lehrende folgende Fragen:
•    Wie kann auf unterschiedliche Zugänge von Schüler*innen  sinnvoll regiert werden?
•    Welche Angebote können eigene gedankliche Aktivität und eigenverantwortliches Lernen anregen?
•    Können zur Lösung eines Problems unterschiedliche Weg eingeschlagen werden? Gibt es verschiedene Handlungsmöglichkeiten? 
•    Welche Angebote wirken wie auf wen? Wie können Wirkungen im Unterricht sichtbar werden? 

Beziehungskultur
Die Hattie-Studie (2013) hat bestätigt, was zuvor bereits viele andere Untersuchungen zeigen konnten: Der Lernerfolg steht und fällt mit der Lehrperson. Dabei ist zentral, dass es ihr gelingt, zu den Schüler*innen eine gute Beziehung aufzubauen. Die Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehungen lassen sich durch die Anerkennung der Schüler*innen durch die Lehrperson charakterisieren, durch Fürsorglichkeit, Herzlichkeit und Wärme, den Einsatz von Lob, Ermutigungen, sachlich-konstruktive Rückmeldungen sowie den positiven Umgang mit Fehlern. 
Heiterkeit und Betroffenheit einbeziehen, kein Bloßstellen, echte Wertschätzung, Bildung als Aushandlung von Welt- und Selbstbeziehung sind Prinzipien der Lehrpersonen mit/in Beziehung. Leider wird kaum über Beziehungen in der Schule diskutiert. Die gängige Prüfungskultur und die damit verbundenen Methoden der Leistungserhebung sind kritisch zu hinterfragen. Denn Fehler sind wertvolle Lernbegleiter und sie gehören zum effektiven Lernprozess (Largo, 2013). "Aus Fehlern lernen - das ist die Essenz, wie wir unsere Leistung steigern können. Ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis ist wichtig, man braucht ein vertrauensvolles Umfeld, das Fehler erlaubt", so Hattie (2012).
All dies sind Elemente einer positiven Schulkultur (Göhlich, 2005) und gehören zu den Faktoren, die das Schulleben lernförderlicher gestalten können. Der Begriff Schulkultur bezieht sich auf die Gestaltung der Schule als Lern- und Lebensraum, auf die Gestaltung der Beziehungen der Lernenden und Lehrenden unter- wie miteinander. Oder vereinfacht nach Seashore-Louise (2013): „School Culture means: That’s the way we are doing things ‘round here!“ Auch die Schulklimaforschung (z.B. Helsper, 2008) hat eindrücklich auf den engen Zusammenhang von Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung einerseits und dem sozialen Klima einer Schule andererseits hingewiesen. 

Resonanzorientierung
Der akustisch-physikalische Begriff Resonanz (lat.: "widerhallen") beschreibt eine spezifische Beziehung zwischen zwei schwingungsfähigen Körpern. Diese spezifische Beziehung der Resonanz entsteht nur, wenn durch die Schwingung des einen Körpers die Eigenfrequenz des anderen angeregt wird. Resonanz bezeichnet damit konkret einen Modus, wie Subjekt und Welt zueinander in Beziehung treten. Wie wird Welt erlebt? Wann wird sie als entgegenkommend und wann als abweisend wahrgenommen?
Der Soziologe Hartmut Rosa behauptet, dass Erfahrungen des In-Beziehung-Setzens mit Welt und damit der Resonanz in den unterschiedlichsten (Unterrichts-)Situationen möglich sind und zwar in all jenen Situationen, in denen Menschen etwas anrührt und sie von etwas angesprochen werden. In solchen Situationen ist es nach ihm möglich, eine aktive Stellung zur Welt einzunehmen, sich diese sozusagen anzuverwandeln (Rosa, 2016). Weltbeziehungen eines Menschen werden dabei ganz wesentlich in und durch die Schule geformt, sodass sich Werte und Haltungen ausbilden können. Bildungsprozesse bestehen im Kern darin, sich in der Welt zu positionieren und für unterschiedliche Resonanzerfahrungen dispositioniert zu werden, d.h. sich dem Fremden, Neuen und Anderen mit intrinsischem Interesse öffnen zu lernen und diesen mit hoher Selbstwirksamkeitsüberzeugung entgegentreten zu können. 
Denn nur in den Bereichen, in denen Subjekte von einer Sache wirklich berührt und ergriffen werden, wo sie sich selbst aufs Spiel setzen und zur Selbstverwandlung bereit sind, können wirklich innovative und herausragende Leistungen und Ideen entstehen. 
Aus der Perspektive der Lehrpersonen umfasst Resonanz dabei das respektvolle Wahrnehmen der Einzigartigkeit jedes Kindes, den Glauben an das Kind, das Vertrauen in seine Fähigkeiten und die Bereitschaft, es so zu unterstützen und zu fordern, dass es über sich hinauswaschen kann und will. 

 

Literatur
Agostini, E., Schratz, M. & Risse, E. (2018). Lernseits denken – erfolgreich unterrichten. Personalisiertes Lernen in der Schule. AOL.

Blumenberg, H.(1999). Die Lesbarkeit der Welt. Suhrkamp.

Franke-Gricksch, M. (2004). "Du gehörst zu uns!" Systemische Einblicke und Lösungen für Lehrer, Schüler und Eltern.  Carl-Auer.

Gebhard, U. (2015). Einleitung: Sinn im Dialog. In U. Gebhard (Hrsg.), Sinn im Dialog. Zur Möglichkeit sinnkonstituierender Situationen im Fachunterricht (S.7-8).  Springer VS.

Göhlich, M. (2005). Schulkultur. In H. J. Apel, & W. Sacher (Hrsg.), Studienbuch Schulpädagogik (S. 99-115). Klinkhardt.

Hattie, J. (2012).Visible learning for teachers. Routledge.

Hattie, J. (2013).  Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible learning“ von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Schneider Verlag.

Largo, R. (2013.) Wer bestimmt den Erfolg. Kind, Schule, Gesellschaft? Beltz.

Meyer-Drawe, K. (2010). Zur Erfahrung des Lernens. Eine phänomenologische Skizze.Institut für Erziehungswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum.  ISSN 1822-430X print/1822-4318 online.

OECD (2016): Supporting Teacher Professionalism: Insights from TALIS 2013. OECD: Paris.

Posch, P., Rauch, F., & Seidl, A. (2012). Qualitätsentwicklung als Aufgabe der Schulleitung und der Schulaufsicht. In BIFIE (Hrsg.), Bildungsstandards und Qualitätsentwicklung an Schulen. Impulse für Schulleiter/innen (S. 39–63). Leykam.

Scheinpflug, A. (2001). Evolutionäre Didaktik. Unterricht aus system- und evolutionstheoretischer Perspektive. Beltz. 

Schratz, M., & Westfall-Greiter, T. (2010). Das Dilemma der Individualisierungsdidaktik. Plädoyer für personalisiertes Lernen in der Schule. Journal für Schulentwicklung, 12(1), 18–31.

Schratz, M., Paseka, A., & Schrittesser, I. (Hrsg.) (2011). Pädagogische Professionalität: quer denken - um-denken - neu denken. Impulse für next practice im Lehrberuf. Facultas.

Schratz, M., Schwarz, J. F., & Westfall-Greiter, T. (2011).Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen. Zeitschrift für Bildungsforschung, 1(1), 25–39.

Schratz, M., & Westfall-Greiter, T. (2014). Learning Beyond the Reach of Teaching: A Radical Alternative or a Radically Determinate Factor. Unpublished paper presented at ECER.

Seashore Louis, K. (2013). What is a strong culture for learning?, Vortrag bei der IX. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (ÖFEB). Bildung im Zeitalter der Individualisierung. 29. 31.20.2013, Innsbruck. 

Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp.

Weigand, G. (2011). Person und Begabung. In A. Hackl, O. Steenbuck, & G. Weigand (Hrsg.), Werte schulischer Begabtenförderung. Begabungsbegriff und Wertorientierung (S. 31–37). Karg-Hefte 3. Karg-Stiftung,

Weinert, F. E. (2001). Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In F. E. Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen (S. 17–31). Beltz.